Helmut Schneider

hwaiw

eine kommentierende Einführung ins Marketing

das Buch

3.Alles strategisch – oder was? Was ist strategisches Marketing?

3.1Spektrum strategischer Marketingentscheidungen

Markenstrategie, Sortimentsstrategie, Diversifikationsstrategie, Pene­trationsstrategie, Me-too-Strategie, Markteintrittsstrategie usw. Der Strategiebegriff wird im Fachvokabular des Marketing und da­rüber hinaus in der gesamten Betriebswirtschaftslehre inflationär ver­wen­det. Insofern ist zu fragen, was überhaupt eine Strategie ist bzw. was aus einer Entscheidung eine strategische Entscheidung macht und welcher Teil strategischer Entscheidungen zum Gegenstand des Faches Marketing zählt.

Die praktisch-normative Ausrichtung der Marketingwissenschaft stellt (Marketing-)Ziele an den Anfang der Überlegungen, da sie den Referenzpunkt für die Auswahl einer Entscheidungsalternative, näm­lich derjenigen mit dem höchsten Zielerreichungsbeitrag, darstellen. Becker (2013, S. 4) beschreibt Ziele in seiner Metapher zur Illustration der Marketingplanung als die Wunschorte – wohin soll die Reise gehen? An die Festlegung der Marketingziele schließt sich unmittelbar die Frage nach den alternativen Wegen zur Ziel­erreichung an. Becker spricht hier von den Routen, die zu den Wunschorten führen. Die Festlegung dieser Routen ist Gegenstand strategischer Planung, die Routen sind demnach die Strategien. Schließlich verlangt die Marketingplanung die Auswahl geeigneter Maßnahmen – in der Me­tapher Beckers der Beförderungsmittel, die auf den festgelegten Routen zum Wunschort führen. Strategien stellen somit das Bindeglied zwischen den Zielen einerseits und konkreten Maßnahmen andererseits dar. Durch die vorherige Routenplanung soll sicher­gestellt werden, dass die einzelnen Schritte auch tatsächlich in die gewünschte Richtung, zum gewünschten Ziel führen.

Dieser Beschreibung liegt die Idee von Strategien als Verhaltensplan, also den vor Fahrantritt geplanten Routen, zugrunde, die wesentlich von Chandler (1962) geprägt wurde. Mintzberg (1978) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Manager auch strategisch handeln können, wenn ihrem Verhalten kein expliziter Plan zugrunde liegt respektive, dass ihr Verhalten regelmäßig von den zuvor definierten Plänen abweicht.

Für ihn sind Strategien „ein Muster in einem Strom von Entscheidungen“ (Mintzberg, 1978, S. 935) und somit ein erst ex post identifizierbares Konstrukt. Die damit umrissene Kontroverse zwischen einem Verständnis von Strategie als Verhaltensplan (intented strategy) oder als Muster tatsächlichen Verhaltens (realized strategy) soll nicht weiter vertieft werden. Hier wird von Strategien als Verhaltensplänen ausgegangen. Allerdings soll der Leser dafür sensibilisiert werden, dass die Festlegung einer Route nicht davon entbindet, kontinuierlich die Annahmen der Routenplanung zu kontrollieren, um möglicherweise unterwegs eine Alternativroute zu wählen. Insofern wird der Auffassung von Chandler und Mintzberg gleichermaßen gefolgt. Planerisches Handeln erfordert die Festlegung von Routen zur Sicherstellung der Zielerreichung, allerdings wird das tatsächliche Verhalten regelmäßig mehr oder weniger stark vom ursprünglichen Verhaltensplan abweichen. Die Wahrscheinlichkeit einer Differenz zwischen Verhaltensplan und tatsächlichem Verhalten wächst dabei mit zunehmender Dynamik der dem Plan zugrundeliegenden An­nahmen über die Umwelt. An einem Dienstagmorgen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Ihr Reiseziel Berlin auf dem ursprünglich geplanten Weg erreichen, größer als an einem Freitagnachmittag, wo Sie der turbulente Verkehr möglicherweise zu häufigen Änderungen Ihrer Route veranlasst. Gleichwohl wird dafür plädiert, auch an einem Freitagnachmittag zunächst eine Route nach Berlin zu planen und nicht einfach so loszufahren. Die Planung einer Route vor Reiseantritt erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie am Ende tatsächlich in Berlin ankommen und nicht zum Beispiel in Stuttgart.

Landläufig könnte man annehmen, dass Strategien aufgrund ihrer hohen Bedeutung für das tägliche Handeln in einem Unternehmen „Chefsache“ sind, also Sache der Unternehmensleitung. Dies ist allerdings nur bedingt richtig. Strategische Planung im Sinne der Festlegung von Routen zur Zielerreichung erfolgt nicht nur auf der Ebene der Unternehmensleitung, sondern auf allen drei in der Betriebswirtschaftslehre differenzierten Unternehmensebenen (Ge­samtunternehmen, Geschäftsbereich und Funktionsbereich). Aller­dings unterscheiden sich die Inhalte der jeweiligen Strategien deutlich voneinander. Die Strategie auf Ebene des Gesamtunternehmens (z. B. Siemens, Bertelsmann oder Deutsche Post DHL) beinhaltet in erster Linie Entscheidungen über die Allokation des Cash Flows und somit über die zukünftige Zusammensetzung der Geschäftsfelder: In welche Geschäftsfelder wird investiert, aus welchen Geschäftsfeldern zieht

man sich zurück. Die Planung des Geschäftsfeldportfolios ist zentrale Aufgabe der strategischen Unternehmensplanung und somit Gegenstand der Unternehmensstrategie. Kein Gegenstand der Unternehmensstrategie sind hingegen Pläne über das Verhalten in einem konkreten Geschäftsfeld (z. B. Siemens Medizintechnik, RTL-Gruppe bei Bertelsmann oder Geschäftsbereich Brief der Deutschen Post AG). Diese Abgrenzung ergibt sich konsequent aus der Aufgabe der Planung strategischer Geschäftsfelder. Der Aufteilung eines Gesamtunternehmens in strategische Geschäftsfelder liegt ja gerade die Annahme über die Heterogenität der unterschiedlichen Märkte, in denen ein Unternehmen agiert, zugrunde. Mit anderen Worten gibt es nur deshalb strategische Geschäftsfelder, weil das Geschäft eines Unternehmens in eben diesen Geschäftsfeldern sehr unterschiedlich ist. Das TV-Geschäft (RTL-Gruppe) ist - so zumindest die Annahme – grundsätzlich anders als das Geschäft mit Büchern oder Zeitschriften. Das Geschäft mit Briefen ist grundsätzlich anders als das mit Containern. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass über das Verhalten in einem konkreten Geschäftsfeld grundsätzlich die Leiter des Geschäftsfeldes entscheiden, nicht die Leiter des Gesamtunternehmens. Die beschriebene Unterschiedlichkeit strate­gischer Geschäftsfelder ergibt sich vor allem aus der Unter­schiedlichkeit der Märkte, in denen sie agieren. Die Kunden und damit Kundenanforderungen sind unterschiedlich, gleiches gilt für Art und Anzahl der Wettbewerber. Pläne zum Herbeiführen wünschenswerter Austauschprozesse im Wettbewerb (und darum geht es ja im Marketing, vgl. Kapitel 1.2) werden somit grundsätzlich auf Ebene der strategischen Geschäftsfelder getroffen, solche Pläne zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen werden hier als Marketingstrategie definiert (vgl. Backhaus/Schneider, 2009, S. 33).

Schließlich findet strategische Planung auch im Funktionsbereich einer Unternehmung (z. B. Einkauf, Produktion, Finanzierung, Marketing, Personal) statt. Im Fokus dieser Funktionsstrategien steht die Maximierung der Ressourcenproduktivität. Der Produktionschef in einem strategischen Geschäftsfeld etwa wird Pläne entwickeln, um die Stückkosten (unter Einhaltung definierter Qualitätsanforderungen) zu minimieren. Auch im Funktionsbereich Marketing werden Strategien entwickelt, etwa im Hinblick auf die Erreichung eines definierten Distributionsgrades. Strategische Planungen im Funktionsbereich Marketing werden hier nicht als Gegenstand der Marketingstrategie verstanden, im Fokus der Marketingstrategie steht hier somit die

Interpretation von Marketing denken und nicht die von Marketing machen.

Die skizzierte Trennung zwischen Unternehmens-, Geschäftsfeld- und Funktionsstrategie darf nicht über die Interdependenzen zwischen den Entscheidungsebenen hinwegtäuschen. Die Geschäftsbereichsstra­tegie basiert auf der Unternehmensstrategie und die Funktions­strategie wiederum auf der Geschäftsbereichsstrategie. Die stra­tegische Planung des einen Bereiches begrenzt somit die Freiheitsgrade der nachgelagerten Bereiche. Dies gilt nicht zuletzt für den Marketingbereich. Strategische Entscheidungen im Funktions­bereich Marketing sind wesentlich davon abhängig, welche Art von Wettbewerbsvorteil in einem strategischen Geschäftsfeld entwickelt werden soll.

Zusammenfassend ist der Strategiebegriff facettenreich. Hier werden Strategien als Routen im Sinne von Verhaltensplänen zu Erreichung von Wunschorten im Sinne von Zielen verstanden. Die Festlegung solcher Routen findet sowohl auf Ebene des Gesamt­unternehmens wie auch auf Geschäftsfeld- und Funktionsebene statt. Allerdings sind die Inhalte dieser Strategien divergent. Auf Ebene des Gesamtunternehmens geht es im Kern um Geschäftsfeldplanung. Strategische Planung auf Geschäftsfeldebene beinhaltet Über­legungen zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen in eben diesem Geschäftsfeld. Die Strategie im Funktionsbereich schließlich dient der Maximierung der Ressourcenproduktivität. Dabei ist zu beachten, dass Interdependenzen zwischen den Unternehmens­ebenen bestehen, nicht zuletzt auch, weil die strategischen Geschäftsfelder eines Unternehmens im „echten Leben“ – anders als lehrbuchmäßig postuliert – häufig nicht vollkommen unabhängig voneinander sind. Die Marketingstrategie wird hier auf Geschäftsfeldebene verortet und beinhaltet Pläne zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilspositionen.

3.2Planung von Wettbewerbsvorteilspositionen als Kernaufgabe des strategischen Marketing – oder: Das Management Komparativer Konkurrenzvorteile (KKV)

3.2.1Integration von Effektivität und Effizienz als Denkprinzip des KKV

Der Komparative Konkurrenz Vorteil (KKV) ist eine spezifische Interpretation des Konzeptes eines Wettbewerbsvorteils. Sie stammt von dem bekannten Münsteraner Marketingprofessor Klaus Backhaus.1 Die Kernidee des KKV ist die integrative Verbindung von Effektivität und Effizienz des Marketinghandelns. Beginnen wir zunächst mit der Effektivitätsseite. Ausgangspunkt der gesamten Marketingdisziplin ist die Tatsache, dass Kunden über etwas verfügen, was vor dem Hintergrund der Zielfunktion für ein Unternehmen wertvoll ist. In der Regel ist dies das Geld des Kunden, es können aber auch seine Kreativität oder sein Netzwerk sein. Allerdings hat der Kunde als potenzieller Transaktionspartner ebenso gut die Möglichkeit, seine zielrelevanten Beiträge anderen Unternehmen zu geben. Anders ausgedrückt herrscht Wettbewerb. Eine wesentliche Aufgabe besteht somit offenbar darin, dem potenziellen Kunden ein Angebot zu machen, dass dieser attraktiver findet als die Angebote relevanter Wettbewerber. Diese Idee eines wettbewerbsüberlegenen Angebotes konkretisiert sich im Begriff der Netto-Nutzen-Differenz (vgl. Backhaus/Schneider, 2009, S. 30 ff.).

Das Konzept des Netto-Nutzen(-Vorteils) drückt die Differenz zwischen dem positiven Leistungsnutzen eines Angebotes und den Nutzeneinbußen aufgrund des dafür zu entrichtenden Preises aus. Kunden werden grundsätzlich nur dann zu einer Transaktion bereit sein, wenn der Nutzen größer als das zu erbringende „Opfer“ ist, sprich wenn der Nettonutzen größer Null ist. In einem solchen Fall hat der Kunde einen Netto-Nutzen-Vorteil. In einer Welt mit Wettbewerb ist dies allerdings nur die notwendige Bedingung für eine Transaktion. Darüber hinaus muss der Netto-Nutzen-Vorteil größer sein als der aller relevanten Wettbewerbsangebote. Ist dies der Fall, so verfügt ein Unternehmen über eine Netto-Nutzen-Differenz.

Backhaus/Schneider (2009, S. 40 ff.) nennen zwei konstitutive Merkmale für die Erreichung von Netto-Nutzen-Differenzen: bedeutsam und wahrgenommen. Mit dem Merkmal bedeutsam wird darauf verwiesen, dass das Leistungsangebot für den Kunden relevante Merkmale aufweisen muss. Das Attribut wahrgenommen signalisiert, dass nicht objektive Merkmale ausschlaggebend für eine Transaktion sind, sondern die Nutzeneinschätzung aus Sicht des potenziellen Kunden. Es geht also nicht um vermeintlich objektive Sachverhalte, sondern um die höchst subjektive Perspektive des Kunden. Die Aufgabenstellung zur Erfüllung der Effektivitätsanforderung lautet somit, ein Angebot zu kreieren, das potenzielle Kunden aus ihrer Sicht (netto-)nutzenstiftender empfinden als relevante Wettbewerbsangebote.

Auch wenn Unternehmen sich mitunter damit schwertun mögen – etwa weil es ihnen an notwendigen Kenntnissen über die Anforderungen von Kunden fehlt oder sie an objektiv-technischen Merkmalen orientiert sind und nicht an der subjektiven Perspektive des Kunden - ist diese Aufgabenstellung für sich genommen eigentlich kinderleicht. Ein Unternehmen müsste lediglich reflektieren, welche Anforderungen Kunden an ein bestimmtes Produkt so alles haben können, sich Gedanken um die Frage machen, wie es diese Merkmale für Kunden glaubhaft dokumentiert und das Ganze zu einem unschlagbar günstigen Preis anbieten. Ein solches Unternehmen hätte zweifelsfrei sehr viele Kunden, da es einen sehr großen Netto-Nutzen-Vorteil offeriert – gleichwohl würden die Unternehmensziele wohl nicht erreicht, da das Unternehmen Verluste macht. Es geht im Marketing eben nicht darum, „glückliche“ Kunden zu erzeugen, sondern mit „glücklichen“ Kunden Geld zu verdienen. Damit kommen wir zur Effizienzseite des KKV.

Die Effizienzseite adressiert die Unternehmensperspektive. Die Austauschprozesse mit Kunden sind nicht finales Ziel des Unternehmens, sondern lediglich Mittel zum Zweck, also Modalziel. Letztlich sollen die Transaktionen mit Kunden zur Erreichung der Unternehmensziele beitragen. Daraus ergibt sich mit dem Merkmal wirtschaftlich unmittelbar die erste Anforderung an einen KKV aus Effizienzperspektive. Unter der Nebenbedingung von Wirtschaftlichkeit ist die Komposition eines Leistungsangebotes mit Netto-Nutzen-Vorteilen für Kunden keine triviale Aufgabe mehr. Einerseits muss die Differenz aus Leistungsnutzen und Preis größer sein als die relevanter

Wettbewerbsangebote, andererseits die Differenz aus Preis und bewertetem Ressourcenverbrauch zur Erzeugung des Leistungsnutzens – sprich die Kosten – hinreichend groß, zumindest aber größer als Null. Ein Unternehmen, das relative Netto-Nutzen-Vorteile erzeugt, dabei aber unwirtschaftlich ist, muss nun entweder den Preis erhöhen, was unmittelbar den Nettonutzen für Kunden senkt oder die Kosten reduzieren, was aufgrund von Nutzeneinbußen in aller Regel ebenfalls mit einer Verminderung des Nettonutzens einhergeht. Sie sehen, wirtschaftliche Netto-Nutzen-Differenzen zu schaffen, ist keine so leichte Aufgabe. Gelingt sie aber, kommt noch eine weitere Anforderung aus Effizienzperspektive hinzu: die Verteidigungs­fähigkeit.

Ein Unternehmen mit Netto-Nutzen-Differenzen, das zudem wirtschaftlich erfolgreich ist, wird unmittelbar in den Fokus der Wettbewerber rücken – das ist eines der grundlegenden Prinzipien einer Marktwirtschaft. Wettbewerber werden versuchen, dem Unternehmen seine erfolgreiche Position streitig zu machen. Daher gehört zur Planung von KKV-Positionen immer auch die Reflexion über Möglichkeiten zur Verteidigung des avisierten Wettbewerbsvorteils. Verteidigungsfähigkeit bedeutet dabei nicht, dass Wettbewerbsvorteile auf alle Ewigkeit gesichert sein müssen, um den Ansprüchen an einen KKV zu genügen. Das kann angesichts der wettbewerblichen Grundordnung nicht funktionieren (Anmerkung des Verfassers: und soll es auch nicht). Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren besteht im Kern ja genau aus dem Prozess von Innovation und Imitation (vgl. Schumpeter, 1943, S. 81 ff.; Schumpeter, 1997 [1911]). Aus Unternehmenssicht ist allerdings zu prüfen, wie gut eine KKV-Position für wie lange verteidigbar ist. Wirtschaftliche Netto-Nutzen-Differenzen, die im Moment ihrer Realisierung unmittelbar von Wettbewerbern kopiert werden können, begründen keine KKV-Position.

Zusammenfassend besteht die Kernaufgabe des strategischen Marketing in der Planung von Wettbewerbsvorteilspositionen. Wettbewerbsvorteile werden hier als Komparative Konkurrenz Vorteile (KKV) verstanden. Der Charme dieser Interpretation liegt in der integrativen Verbindung von Effektivität und Effizienz. Unternehmen müssen einerseits ein Leistungsangebot konzipieren, dass eine hinreichend große Zahl von Kunden als wettbewerbsüberlegen einstuft. Gleichzeitig muss dieses Angebot aber die Erreichung der

Unternehmensziele unterstützen und damit erstens wirtschaftlich und zweitens in einem Mindestmaß gegenüber den Wettbewerbern verteidigbar sein.

3.2.2Spielarena, Spielverhalten und Spielregeln als marktstrate­gische Dimensionen des KKV

Die Planung von KKV-Positionen erfolgt in Analogie zu Fragestellungen aus dem Leistungssport in drei marktstrategischen Dimensionen (vgl. Backhaus/Schneider, 2009, S. 51 ff.). Wie ein Leistungssportler muss sich auch ein Unternehmen zunächst fragen, in welcher Spielarena es im Wettbewerb antreten will. Man kann Mehrkämpfer oder Spezialist sein und als Spezialist eröffnen sich für den Sportler ebenso wie für ein Unternehmen zahlreiche, mögliche Spielarenen. Die Auswahl der geeigneten Spielarena ist für die Erfolgschancen sehr maßgeblich und hängt zum einen von der Attraktivität der Arena ab, zum anderen von den eigenen Fähigkeiten, in einer Arena Wettbewerbsvorteile zu generieren. Zweitens ist die Frage nach einer adäquaten Spielverhaltensweise zu beantworten. Im strategischen Marketing besteht der Optionsraum dabei aus den Spielverhaltensdimensionen Preis, Zeit und Qualität. Drittens schließlich wird im Sport wie im ökonomischen Wettbewerb nach bestimmten Regeln gespielt. Dabei kann zwischen exogenen und endogenen Regeln unterschieden werden. Exogene Regeln kommen von außen und sind für alle Spieler einer Arena verbindlich. Ein Regelverstoß wird sanktioniert. Endogene Regeln hingegen sind die ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten eines Marktes, die sogenannten Standards. Ein Abweichen von diesen Regeln ist für jeden Teilnehmer

einer Spielarena grundsätzlich zulässig. Die Grundgedanken dieser drei marktstrategischen Dimensionen sollen nachfolgend vorgestellt werden.

Den Ausgangspunkt bildet die Festlegung des für ein Unternehmen relevanten Marktes, der Spielarena. Die Frage ist nicht zuletzt deshalb zentral, weil Überlegungen zum Spielverhalten und Analyse der Spielregeln auf dieser Entscheidung aufbauen. Fehler, die bei der Abgrenzung der Spielarena gemacht werden, können durch Entscheidungen in den beiden anderen marktstrategischen Di­mensionen nicht korrigiert werden. Mit der Abgrenzung des relevanten Marktes legt das Unternehmen seinen Ausschnitt der ökonomischen Realität, seine Perspektive fest. Warum ist eine solche Eingrenzung notwendig? Zunächst ließe sich ja argumentieren, dass unter dem Gesichtspunkt „wünschenswert“ jede mit Zahlungsmitteln versehene Transaktion für ein Unternehmen relevant ist, da sich mit jeder ökonomischen Transaktion prinzipiell Gewinn erzielen lässt.

Stellen Sie sich dazu bitte einmal kurz eine große Landkarte vor, die im Büro eines Managers hängt. Die Landkarte ist mit Milliarden kleiner LED-Dioden bestückt. Jedes Mal, wenn in Deutschland (das ist schon eine Vereinfachung, wir könnten genauso gut die ganze Welt nehmen) irgendwo ein mit Zahlungsmitteln versehener Austauschprozess stattfindet, salopp formuliert, jedes Mal, wenn in Deutschland irgendwo die Kasse klingelt, blinkt eine der Milliarden Dioden auf. Und bei jedem Klingeln einer Kasse denkt dieser Manager, dass dies gerade eigentlich sein Umsatz hätte sein können, wenn er es nur richtig angestellt hätte. In dieser Perspektive wird das gesamte Bruttoinlandsprodukt zum relevanten Markt des Managers. Nun sind allerdings die im Bruttoninlandsprodukt enthaltenen Transaktionen nicht nur sehr zahlreich, sondern auch sehr verschieden. Enthalten sind Busreisen, Blinddarmoperationen, Restaurantbesuche und der Bau von Häusern, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Vermutlich wird dieser Manager bei der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Transaktionen nicht eine für sich gewinnen können, wenn er sich nicht auf einen bestimmten Teil fokussiert und den Rest ausblendet. Die Milliarden von leuchtenden Lampen, denen er seine Aufmerksamkeit schenken will, führen dazu, dass er die einzelne Lampe kaum noch wahrnimmt. Es sind nicht nur schlicht zu viele, sondern auch zu unterschiedliche Austauschprozesse. Ähnlich einem Bären, der vermutlich nicht einen einzigen Fisch fangen würde, wenn er trotz des

Überflusses während der Lachswanderung seine Aufmerksamkeit nicht auf jeweils einen Fisch fokussieren würde und die Vielzahl der restlichen, grundsätzlich auch verlockenden Fische einfach ignorierte. Die Festlegung des relevanten Marktes führt in dem Büro unseres Managers also dazu, dass bestimmte Leuchten abgeschaltet werden. Die Menge an vermeintlich fangbaren Fischen geht damit zwar zurück, die Fangwahrscheinlichkeit nimmt allerdings zu. Der Schlüssel zum Verständnis der Abgrenzung des relevanten Marktes ist somit Heterogenität. Die im Bruttoinlandsprodukt enthaltenen Transaktionen sind zu unterschiedlich, als dass ein Unternehmen für all diese eine KKV-Position komponieren könnte.

Wie grenzt man nun den für das eigene Unternehmen relevanten Teil aller Transaktionen ab? Dazu ist zunächst der Suchraum zu konkretisieren. Die Komposition von KKV-Positionen erfordert Kenntnisse über potenzielle Kunden und potenzielle Wettbewerber. Ohne diese Kenntnisse ist das Angebot eines aus Kundensicht in Relation zu Wettbewerbern vorteilhaften Angebotes unmöglich. Dabei herrscht in der Marketingwissenschaft Einigkeit darüber, dass Wettbewerber grundsätzlich aus Kundensicht zu bestimmen sind. Der Kunde entscheidet mit seinen Vorstellungen über Alternativangebote darüber, welche Unternehmen Wettbewerber sind und welche nicht. Der Alternativcharakter eines Angebotes kann aus Kundensicht dabei mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Wenn Sie in einer Kneipe gerne ein Bier bestellen möchten, wird ein Glas Rotwein vermutlich eher eine Alternative darstellen als eine Cola. Die Cola wiederum wird vermutlich eher ein Alternativangebot sein als ein Pfund Butter usw. Substitutionsintensität – der Fachbegriff für den Grad der Austauschbarkeit unterschiedlicher Angebote aus Kundensicht – ist somit metrisch (mehr oder weniger) und nicht nominal (ja oder nein) skaliert. Die Identifikation von Wettbewerbern über die Messung von Substitutionsintensitäten impliziert gleichzeitig, dass aus einer Marketingperspektive eine produkt- oder branchenorientierte Abgrenzung des relevanten Marktes unzweckmäßig ist. Kunden orientieren sich bei ihrem Alternativenspektrum nicht an Produktgrenzen, sondern an der Ähnlichkeit des Problemlösungspotenzials alternativer Angebote. Würde Dr. Oetker seinen Markt für Tiefkühlpizzen als Tiefkühlpizzenmarkt abgrenzen, so wären Anbieter von Produkten mit einem ähnlichen Problemlösungspotenzial, wie möglicherweise Mirácoli, keine Wettbewerber, obgleich Kunden in einer konkreten Einkaufssituation

genau diese Auswahlentscheidung treffen (kaufe ich mir lieber eine Tiefkühlpizza von Dr. Oetker oder Mirácoli?).

Wettbewerber werden also über den Grad der Austauschbarkeit aus Kundensicht, die Substitutionsintensität, bestimmt. Allerdings setzt dies voraus, dass ein Unternehmen weiß, wer seine potenziellen Kunden sind: Bei wem sollten sonst die Substitutionsintensitäten gemessen werden? Bei der Bestimmung potenzieller Kunden gilt genau wie bei Bestimmung der Wettbewerber, dass eine produktorientierte Perspektive in die Irre führt. Potenzielle Kunden von Dr. Oetker sind eben nicht alle Käufer von Tiefkühlpizzen, sondern möglicherweise auch Mirácoli-Käufer. Backhaus und Schneider (2009, S. 56 ff.) schlagen daher vor, die Abgrenzung des relevanten Marktes in vier Schritten zu vollziehen. Am Anfang steht die Reflexion des eigenen Problemlösungspotenzials. Welches Kundenproblem könnte mein Produkt lösen? Hieran schließt sich die Frage an, wer dieses Problem (in welchem Ausmaß) hat. Diese Frage führt somit zu den potenziellen Kunden eines Unternehmens. Drittens muss aus Sicht dieser potenziellen Kunden über die Ermittlung von Substitutionsintensitäten (Wer kann aus Sicht der potenziellen Kunden das Problem sonst noch lösen?) das Spektrum potenzieller Wettbewerber ermittelt werden. Da die Substitutionsintensität mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann, muss das Unternehmen viertens schließlich darüber entscheiden, ab welchem Grad der Substitution Wettbewerb besteht. Dabei kann das Unternehmen sich für eine eher enge Eingrenzung (nur Angebote mit einer relativ hohen Substitutionsintensität werden als Wettbewerber aufgefasst) oder eine eher weite Abgrenzung (auch Angebote mit einer relativ geringen Substitutionsintensität werden als Wettbewerber aufgefasst) ent­scheiden.

Im Anschluss an die Abgrenzung des relevanten Marktes (und einer etwaigen Marktsegmentierung) gilt es, alternative Spielverhaltens­optionen auf ihr Potenzial zur Erreichung einer KKV-Position zu prüfen. Hierbei stehen einem Unternehmen mit Preis, Qualität und Zeit drei Spielverhaltensdimensionen zur Verfügung (vgl. Backhaus/Schneider, 2009, S. 84 ff.). In aller Regel wird ein Unternehmen diese drei Dimensionen kombinieren. Auch ein Unternehmen, das primär Preisvorteile für seine Kunden anbietet, wird über Qualitätsfragen, sprich über die nutzenstiftenden Elemente seines Angebotes, nachdenken müssen. Ebenso wird ein Unternehmen, das KKV-Positionen vor allem über einen in Relation zum Wettbewerber überlegenen Nutzen zu erlangen sucht, den richtigen Preis für sein Angebot finden müssen. Die Begriffe Preis- respektive Qualitäts- oder Zeitführerschaft, die eindimensionale Spielverhaltensweisen suggerieren, sind also eine starke Vereinfachung der Entscheidung über das richtige Spielverhalten. Dessen ungeachtet werden nachfolgend zentrale Merkmale der drei Spielverhaltensoptionen getrennt vorgestellt. Der Leser möge dabei aber immer im Kopf haben, dass im konkreten Anwendungsfall die drei Dimensionen intelligent (sprich im Hinblick auf das KKV-Potenzial) gemischt werden müssen.

Beginnen wir mit der Dimension Preis. Hierbei sollen Netto-Nutzen-Differenzen vor allem über einen in Relation zu relevanten Wettbewerbern günstigeren Preis erzielt werden. Da eine Preissenkung ceteris paribus immer zu einer Gewinnminderung führt, sind bei dieser Spielverhaltensweise vor dem Hintergrund der Wirtschaftlichkeitsanforderung an den KKV insbesondere zwei Dinge zu beachten. Erstens erfordert ein Spielen in der Dimension Preis eine im Wettbewerbsvergleich günstigere Kostenstruktur. Die Gewinneinbußen durch einen geringeren Preis sollen durch verminderte Kosten (über)kompensiert werden. Insofern muss zunächst geprüft werden, ob eine günstigere Kostenposition im Wettbewerbsvergleich überhaupt möglich erscheint. Falls diese Frage mit ja beantwortet wird, sind Optionen zur Kostensenkung zu

analysieren. Dabei ist aus Marketingsicht insbesondere darauf zu achten, dass Maßnahmen zur Kostenreduktion nicht zu einem überproportionalen Nutzenrückgang für potenzielle Kunden führen. Eine Kostensenkung als Grundlage für einen günstigeren Preis wäre nicht sinnvoll, wenn durch die Kostensenkung der Nutzen des Leistungsangebotes (dessen Erstellung ursächlich für die Kosten ist) überproportional sinken würde, da dann der Nettonutzen für potenzielle Kunden nicht steigen, sondern im Gegenteil sinken würde.

Neben dem Aspekt der Kostenführerschaft ist für den Preisführer zweitens relevant, welche Menge er mit seiner preisorientierten Spielverhaltensweise realisieren kann. Einbußen im Wertgerüst des Deckungsbeitrages (der Deckungsspanne) sollen durch ein Mengenpremium kompensiert werden. Eine Steigerung der Absatzmenge in Folge eines geringeren Preises setzt allerdings voraus, dass der Preis von potenziellen Kunden als günstig interpretiert wird. Für die Reaktion der Menge ist in dieser Sichtweise somit nicht der objektive Preis, sondern vielmehr das Preisurteil als Ergebnis eines subjektiven Transformationsprozesses durch den Kunden relevant. Ein objektiv günstiger Preis wird nicht zwingend von Kunden auch als solcher interpretiert. Für Unternehmen, die KKV-Positionen über einen relativ günstigen Angebotspreis erzielen wollen, ist somit die Preisbeurteilung ein zentrales Handlungsfeld (vgl. dazu auch Kapitel 4.3.2).

Unternehmen können auch versuchen, Netto-Nutzen-Differenzen primär über einen in Relation zum Wettbewerber höheren Nutzen zu generieren. Damit ist die Spielverhaltensdimension Qualität angesprochen. Der Qualitätsbegriff ist dabei missverständlich. Aus Marketingsicht entsteht die Qualität im Kopf der potenziellen Kunden. Es geht also – wie immer im Marketing – nicht um vermeintlich objektive Merkmale, sondern um die subjektive Wahrnehmung potenzieller Transaktionspartner. Qualität ist nicht nur subjektiv, sondern zudem mehrdimensional. Die Qualität eines Oberhemdes hängt für den einen von Passform, Haptik und Bügelfreiheit, für den anderen von Farbe, Kragenform und Ärmellänge ab. Es gibt also nicht die Qualität, sondern viele unterschiedliche Qualitätsfacetten. Diese Facetten können dabei kompensatorischen oder nicht kompensatorischen Charakter haben. Schwächen in einem Qualitätsmerkmal können somit manchmal durch Stärken in anderen Merkmalen ausgeglichen werden (kompensatorisch) oder eben auch

nicht (nicht kompensatorisch). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass einzelne für den Kunden relevante Qualitätsmerkmale durch ihn nicht zuverlässig beurteilt werden können. Im Theoriekapitel wurde bereits auf die informationsökonomische Gütertypologie verwiesen (vgl. Kapitel 1.3). Qualitätsmerkmale, die Erfahrungs- oder Vertrauens­charakter aufweisen, sind für Kunden erst nach dem Kauf respektive gar nicht zu beurteilen. Will ein Unternehmen in solchen Merkmalen Netto-Nutzen-Differenzen erzielen, muss es reflektieren, wie es diese Qualitätseigenschaften für Kunden glaubhaft dokumentieren kann.

Neben Subjektivität, Mehrdimensionalität und informationsökonomisch begründeten Fragestellungen im Kontext der Qualitätsführerschaft ist der Schnittstelle zum Produktionsbereich im weiteren Sinne (das kann im Falle eines Restaurants auch die Küche sein) besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Offenkundig kommen die Qualitäts­anforderungen vom Kunden. Es ist Aufgabe des Marketing, diese zu ermitteln (vgl. Kapitel 2) und in das Unternehmen hereinzutragen. Allerdings lässt sich mit diesen Informationen noch keine Qualität erzeugen. Hierzu ist erforderlich, den Produktionsprozess gesamthaft im Hinblick auf den Beitrag einzelner Produktionsschritte für die relevanten Qualitätsmerkmale zu durchleuchten. Würde zum Beispiel bei einem Hemd die Haptik ein relevantes Qualitätsmerkmal sein, ist zu fragen, wie man „sich gut anfühlende Hemden“ produziert. Welche Teile eines Produktionsprozesses müssen wie ausgerichtet sein, damit am Ende die vom Kunden erwünschten Merkmale vorhanden sind? Hierzu ist ein intensiver Dialog mit der Produktionsseite eines Unternehmens erforderlich. Für unser Haptikbeispiel hieße das möglicherweise, dass Spezifikationen für die eingekauften Rohstoffe erstellt werden, für den Prozess des Webens oder des Einfärbens.

Die dritte Spielverhaltensdimension adressiert den Umgang mit der Zeit von Kunden. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Spielverhaltensdimension sind Opportunitätskosten. Diese entstehen, wenn eine Ressource knapp ist und auch für andere als den aktuellen Zweck nutzenstiftend verwendet werden könnte. Damit Kunden den Nutzen eines Leistungsangebotes realisieren können, müssen sie häufig auch Zeitressourcen einsetzen. Dies gilt für den großen Bereich persönlicher Dienstleistungen (z. B. Kinobesuch), aber auch für viele Gebrauchsgegenstände, die erst durch ihre zeitraubende Benutzung nutzenstiftend wirken (z. B. Rasenmäher). Zeit ist aber knapp und für unterschiedliche Verwendungszwecke einsetzbar. Insofern entstehen

für Kunden bei Inanspruchnahme persönlicher Dienstleitungen oder der Verwendung von Gebrauchsgütern zeitbezogene Opportunitätskosten. Die Senkung dieser Opportunitätskosten erhöht den Nettonutzen für potenzielle Kunden und ist damit grundsätzlich KKV-relevant.

Zur Senkung zeitbasierter Opportunitätskosten bieten sich zwei Ansatzpunkte an. Zum einen kann der erforderliche Zeitaufwand reduziert werden (Prozessverkürzung). Hierfür finden sich sowohl im Dienstleistungsbereich (Schnell-Restaurants, Express-Reinigung, Hochgeschwindigkeitsverkehr) als auch im Sachleistungsbereich (kürzere Laufzeiten einer Waschmaschine, kürzere Garzeiten von Nudeln) zahlreiche Beispiele. Zum anderen kann reflektiert werden, ob bei gleicher Prozessdauer die zeitbasierten Opportunitätskosten durch das Angebot paralleler Zeitverwendungen gesenkt werden können. Ein Beispiel hierfür wären etwa Arbeitsmöglichkeiten im Zug.

Die letzte marktstrategische Dimension im Kontext des Managements Komparativer Konkurrenz Vorteile sind die Spielregeln eines Marktes. Hierbei muss zwischen exogenen und endogenen Regeln differenziert werden. Ein Verstoß gegen exogene Regeln wird sanktioniert. Insofern gilt es, die relevanten exogenen Regeln einer Spielarena zu identifizieren und zu beachten. Das Spektrum exogener Regeln reicht dabei von Regeln, die Austauschprozesse überhaupt erst ermöglichen (Eigentums- und Vertragsrecht) bis zu Regeln, die in Marktprozesse intervenieren, wie etwa Schutzrechte von Wettbewerbern oder von Kunden. Da exogene Regeln regelmäßig geändert werden, ist die Analyse exogener Regeln einer Spielarena eine dauerhafte Aufgabe. Dies gilt insbesondere, weil exogene Regeländerungen mitunter KKV-Positionen maßgeblich beeinflussen (z. B. Ladenschlussgesetz, Dosenpfand, Grenzen für CO2-Ausstoß etc.). Endogene Regeln einer Spielarena können, müssen aber nicht beachtet werden. Insofern bieten endogene Regeln eine Möglichkeit zur revolutorischen Neuschaffung von KKV-Position. Dieser Aspekt wird im nachfolgenden Kapitel beleuchtet.

3.2.3Evolutorische Weiterentwicklung vs. Revolutorische Neuschaffung von KKV-Positionen

Das Management von KKV-Positionen ist keine statische Aufgabe. Ebenso wie ein Spitzensportler, der nicht mehr hart oder lange genug trainiert, von Wettbewerbern ein- respektive überholt wird, müssen auch Unternehmen ihre Position im Wettbewerb durch ständige Verbesserungen verteidigen. Dazu ist ähnlich wie im Sport zunächst einmal kontinuierliches und zielgenaues Training erforderlich: Wo bestehen Schwachstellen? In welchen Spielverhaltensdimensionen haben sich Wettbewerber deutlich verbessert? Inwieweit verändern sich Anforderungen von Kunden? Was kann getan werden, um Schwachstellen zu verbessern und Stärken beizubehalten oder auszubauen? Solche und ähnliche Fragen müssen sich Unternehmen stellen, um eine erreichte KKV-Position behaupten zu können. Diese Perspektive des „besser machen“, des Trainierens, soll hier als evolutorische Weiterentwicklung von KKV-Positionen verstanden werden. Sie ist erforderlich, um sich in einem dynamischen Wettbewerb behaupten zu können. Mitunter sollten Unternehmen aber auch reflektieren, ob der Trainingsaufwand grundsätzlich noch zielführend ist, oder ob nicht ein Wechsel der Spielarena oder das Abweichen von etablierten Verhaltensweisen KKV-Potenzial besitzt. Diese Perspektive des „anders machen“ soll hier unter dem Schlagwort revolutorische Neuschaffung von KKV-Positionen erörtert werden.

Der Impuls für einen möglichen Wechsel der Spielarena als eine

Möglichkeit zur revolutorischen Neuschaffung von KKV-Positionen kann zum einen aus einer nachlassenden Attraktivität der bisherigen Spielarena, zum anderen aus nicht mehr ausreichenden Fähigkeiten zur Generierung von KKV-Positionen in der alten Spielarena resultieren. Indikatoren für eine nachlassende Attraktivität der Spielarena könnten zum Beispiel schrumpfende Marktvolumina, abnehmende Umsatzrenditen oder ähnliches sein. Nicht mehr ausreichende Fähigkeiten zur Generierung von KKV-Positionen können zum einen im Eintritt starker Wettbewerber oder veränderten Kundenanforderungen begründet sein. Für den Wechsel der Spielarena sind nun zwei Aspekte zu reflektieren. Erstens gilt es, potenzielle neue Spielarenen mit hoher Marktattraktivität zu identifizieren. Indikatoren dafür könnten wiederum Wachstums­potenziale, Renditen, aber auch Markteintrittsbarrieren und Stärke der in der neuen Spielarena präsenten Wettbewerber sein. Die so ermittelte Attraktivität einzelner Spielarenen ist zweitens um eine Kompetenzperspektive zu erweitern. Welche Anforderungen an Ressourcen und Fähigkeiten stellen alternative neue Spielarenen und wie groß ist die Distanz zum jetzigen Kompetenzprofil des Unternehmens? Je höher die Marktattraktivität einer Spielarena und je kleiner die Kompetenzdistanz, desto lukrativer ist die jeweilige neue Spielarena. Neben dem Wechsel der Spielarena bietet auch das Abweichen von endogenen Regeln eines Marktes das Potenzial zur Erzielung revolutionärer KKV-Positionen. Das berühmteste Beispiel aus dem Bereich des Sports für ein Brechen bisheriger Standards ist wohl der nach seinem Erfinder benannte Fosbury Flop.

Nicht nur im Sport finden sich Beispiele für das erfolgreiche Abweichen von etablierten Verhaltensweisen. IKEA, Starbucks oder Motel One sind Beispiele für revolutorische Neuschaffung von KKV-Positionen durch das Brechen endogener Regeln aus dem ökonomischen Kontext. Das Brechen endogener Regeln setzt als Prozess kreativer Zerstörung zunächst die Identifikation dieser Regeln voraus. Da man selber Beteiligter ist, fällt dies in aller Regel sehr schwer. Ratsam ist es, möglichst großen Abstand zu nehmen und nach Gemeinsamkeiten im Spielverhalten aller Spieler einer Spielarena zu suchen. Hilfreich ist es dabei häufig, Branchenfremde an der Suche nach endogenen Regeln zu beteiligen. Denken Sie an einen Ihrer Besuche im Ausland, bei dem Sie vielleicht Dinge bemerkt haben, die den Einheimischen gar nicht auffallen, da diese für sie halt „normal“ sind. An den Prozess der Identifikation etablierter Verhaltensweisen schließt sich die kreative Phase an. Hier sind Warum-Fragen von großer Bedeutung. Warum macht man das eigentlich so oder so? Für beinahe alle Standards lassen sich gute Begründungen finden, bei manchen wird man aber durch den Reflexionsprozess vielleicht doch zu keinen überzeugenden Antworten gelangen. Schließlich gilt es, alternative Ideen zu entwickeln und im Hinblick auf ihr KKV-Potenzial zu bewerten. Wie bei allen Kreativprozessen ist es dabei ratsam, den Kreativteil vom Be­wertungsteil strikt zu trennen, um die Kreativität nicht schon im Keim zu ersticken.

HWAWHAT?

Dieses Buch ist kein übliches Lehrbuch zum Marketing. Es ist eher Kommentar als Nachricht, eher Wochen- als Tageszeitung, eher Reiseführer als Reisebericht. Es wendet sich an alle, die Lust haben, die faszinierende Welt des Marketing verstehend zu entdecken: Neu-Einsteiger oder „alte Hasen“, Praktiker oder Akademi­ker, BWL-nahe und BWL-ferne. Das Werk kondensiert die Perspektive des Autors auf die Marketingdisziplin. Die Basis bildet dabei die Interpretation des Faches als die Lehre vom Herbeiführen wünschenswerter Aus­tauschprozesse im Wettbewerb; kurz HWAIW [hawei].

Hierauf aufbauend werden in fünf Kapiteln die zentralen Themen der Marketingdisziplin erläutert: Das erste Kapitel ist den konzeptionellen Grundlagen des Faches gewidmet. Dabei werden aufbauend auf der dualen Perspektive aus „Marketing machen“ und „Marketing denken“ die zahlreichen Ausdifferenzierungen der Disziplin sowie ihre theoretischen Zugänge erklärt.



Im zweiten Kapitel wird erläutert, warum Informationen in einem entscheidungsorientierten Marketing eine zentrale Rolle spielen und wie man entscheidungsrelevante Informationen gewinnen kann. Im dritten Kapitel werden strategische Marketingfragen beleuchtet. Im Zentrum steht dabei die Komposition einer Wettbewerbsvorteilsposition. Daran schließt sich die Erläuterung der Marketinginstrumente in einer transaktions- und beziehungsorientierten Perspektive an. Den Abschluss bildet ein Blick auf Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Marketingcontrolling. In allen Kapiteln steht das Verstehen, nicht die Wissensaneignung, im Vordergrund. Über „Denk-, Lese- und Transferimpulse“ werden Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit der Materie gegeben. Um den Leser von definitorischem Ballast zu befreien, findet sich im Anhang ein umfangreiches Glossar.

Der Autor

Helmut Schneider

Professor Dr. Dr. Helmut Schneider ist Inhaber des SVI-Stiftungslehrstuhls für Marketing und Dialogmarketing an der Steinbeis-Hochschule Berlin und Direktor von MOON – Institut für Strategisches Marketing. Zuvor war er zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter, später Akademischer Oberrat bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. H. Meffert am Marketing Centrum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Er studierte von 1988 bis 1995 zunächst Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie ab 1990 zusätzlich Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster. Nach dem Erwerb des Magister Artium im Jahre 1993 und des Diplom-Kaufmann im Jahre 1995 promovierte er 1996 mit einer Arbeit zur Rationalität von Wirt­schaftspolitik zum Dr. phil. 1999 folgte die Promotion zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit zur Preisbeurteilung im Verkehrsdienstleistungsbereich. Für seine Habili­ta­ti­onsschrift „Marken in der Politik“ verlieh ihm die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Juli 2003 die venia legendi für das Fach Betriebswirt­schaftslehre. Nach einer einjährigen Gastprofessur an der Marmara Universität in Istanbul folgte Herr Schneider am 1. Januar 2006 dem Ruf an die Steinbeis-Hochschule. Herr Schneider ist Lehrbeauftragter an der Universität Münster, der Universität Kassel sowie der Zeppelin University. Zudem ist er Gründungs­direktor des Forschungszentrums für Familien­bewusste Personalpolitik.

Seine Forschungsergebnisse finden sich in zahlreichen nationalen und internationalen renommierten Fach­zeitschriften. Für das gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Backhaus verfasste Buch „Strategisches Marketing“ erhielt Schneider den Lehrbuchpreis des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebs­wirtschaft sowie den Georg-Bergler-Preis. Es folgte für heraus­ragende Transferleistungen der Löhn-Preis der Steinbeis-Stiftung. In der Praxis war er unter anderem maßgeblich an der Konzeption des neuen Preis­systems der DB AG sowie der Neugestaltung der Markenarchi­tektur des Deutschen Lotto- und Toto­blocks beteiligt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berät Schneider in Fragen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf
und Familie.